Ein Kommentar zum Thema Reality-TV
(Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10./11. Februar 2001, S.22)


Ausgespannt

Ein bißchen Bettdeckengeraschel, von Infrarotkameras observiert, ist nicht genug auf Dauer: Ein Nachruf aufs Reality TV

Wenn es so etwas wie einen Fernsehfriedhof gäbe, wie sähe der aus? Man kann es sich ja einfach mal vorstellen. Also, statt Grabsteinen: Bildschirme, der Abspann auf ewig programmiert. Und wenig Blumen, stattdessen Symbole. Das Fernsehen ist ja voller Symbole. Auf dem Grab von Was bin ich? stünde ein Sparschwein. Auf dem vom Internationalen Frühschoppen lägen sechs Trauerkränze aus fünf Ländern.
Wenn es einen Fernsehfriedhof gäbe, hätte der längst auch einen neuen Bereich, mit frisch ausgehobenen Gruben fürs Reality TV. Am vergangenen. Mittwoch hat Marion Horn in der Bild-Zeitung einen kleinen Kommentar geschrieben, na ja, eigentlich war es nicht mehr als ein Eintrag ins Tagebuch. Aber der stand auf Seite zwei der Bild, wo Frau Horn zur gewaltigen Schar der verantwortlichen Redakteure gehört. Auf diesem Platz kann der kleinste Kommentar die Wucht eines Leitartikels entfalten. Sie habe, schrieb Frau Horn, eine Tochter, mit der sie sich seit kurzem abends wieder richtig unterhalten könne: ,,Sie wird nicht mitten im Gespräch aufspringen, um verhaltensauffällige Menschen im Container anzugucken." Die Teenies hätten keine Lust mehr auf Big Brother und Co, befand Frau Horn: "Wir haben unsere Kinder wieder."
Seit Mittwoch also wissen die Reality-Macher, was die Stunde geschlagen hat. Die Quoten sind unten wie der Kurs von EM.TV: 21 Prozent Marktanteil hatte die letzte Big Brother-Staffel, bei der derzeit laufenden sind es nur elf. Nicht allein Frau Horns Tochter verweigert sich. Und seit die Männer bei Bild Boris' Spermien, Babs' frischen Trennungsschmerz und Joschkas frühe Prügeleien in den Schlagzeilen aufwärmen, ist in dem Blatt, das früher ein zuverlässiger Partner bei der Produktion der Containerhelden war, kein Platz mehr für Zlatkos Wiedergänger.
Es ist vorbei. Die Glocken bimmeln. Zeit für einen Nachruf.

Menschen, richtige Menschen

Wie es angefangen hat, vor knapp einem Jahr? Wie alles anfängt: mit einem großen. Versprechen. Wir werden Menschen zeigen, richtige Menschen, riefen die Programmdirektoren, und am lautesten rief es der Herr Andorfer von RTL 2. Wir werden sie zeigen, wie sie sind, lockten die Fernsehmacher.
Und wie sind sie, die Menschen? Nackt sind sie, nicht ständig, aber doch regelmäßig. Das sei eine geniale Idee, sagte Herr Andorfer und ließ sich als Visionär feiern, dabei hatte er nur noch einmal die Leidenschaft formuliert, die die Menschen am stärksten treibt, die Fleischeslust. Der eine hat Lust, sein Fleisch zu präsentieren, die anderen haben Lust, es zu betrachten. Man muß das irgendwie zusammenbringen, dann funktioniert es. So kam die Containershow Big Brother auf die Welt, und wenn sie sie bald verläßt, werden viele Trauergäste dabei sein, die sich damals geirrt haben.
Die Männer von RTL 2 zum Beispiel, die aus Marktanalysen herauslasen, Big Brother sei der Trend der jungen, modernen Generation. Oder Ministerpräsident Kurt Beck, der die Sendung verbieten lassen wollte wie das Zwergenwerfen, weil sie mit der Menschenwürde nicht vereinbar sei. Oder Kai Pflaume, der berühmte Moderator, der verfügt hatte: ,,Die Sendung hat nicht nur unser Sehverhalten, sondern unsere ganze Gesellschaft verändert." Sie alle haben mit ihrem Gerede - gewollt oder ungewollt - dazu beigetragen, daß Big Brother als ein Ereignis erschien, das es nie war. Ein bißchen Bettdeckengeraschel, von lnfrarotkameras observiert und in den Hauptnachrichten bei RTL besprochen. Das war alles, und es war, auf die Dauer, nicht genug.
Bei Big Brother sind die Einzelbetten mittlerweile durch Sammelmatratzen ersetzt worden. In der Dusche fehlt die Tür. Die Kandidaten sollen immer näher herangebracht werden an das Ziel, um das es geht: die öffentliche Rammelei. Aber das wäre Pornografie und ist nicht erlaubt im Fernsehen. Es bleibt also bei der Ankündigung des Skandals; es bleibt bei einem Versprechen, das nicht eingelöst werden kann.
Eine Enttäuschung. Menschen sind Augentiere, sagen die Fernsehstrategen. Wenn ihren Augen nichts Neues geboten wird, machen sie sie zu. Herr Andorfer, der geschmeidige Österreicher, hat zwar gerade der Woche erklärt, die jungen l,eute wollten gar keinen Porno sehen, ,,die wollen wissen, was sagt der Walter zu der Ebru und wer ist mit wem befreundet". Na ja, das klingt ein bißchen so wie ein Koch, der flunkert, die Gäste kämen nicht wegen des Essens in sein Restaurant, sondern, weil sie die Qualität des Geschirrs bestaunen wollten.
Wenn Big Brother in die Grube fährt wird aus allen Lautsprechern schlimme Musik kommen. Zlatko wird mit Jürgen Großer Bruder singen, Alex Ich will nur dich und Christian Es ist geil, ein Arschloch zu sein. Sie alle haben sich - eigentlich erwartungsgemäß - zu Tode vermarktet. Es gibt nichts mehr zu entdecken, die Helden waren schnell als ruhmsüchtige Raffsäcke geoutet. Die spanische Containerbelegschaft hat es anders gemacht, sie ging sich - wenigstens scheinbar mehr von Lust als von Kalkül geleitet - dermaßen an die Wäsche, daß bestimmte Sequenzen nicht gezeigt werden konnten. Und weil das Publikum bis zum Schluß die Hoffnung auf eine richtige Orgie hegen durfte, hatte Gran Hermano sogar an jenem Abend im letzten Frühjahr die höchste Einschaltquote, als im Konkurrenzkanal das Endspiel um die Champions League gezeigt wurde: Valencia gegen Madrid, ein historisches Ereignis im spanischen Fußball.
Im letzten Frühjahr ging es Big Brother aber auch in Deutschland noch richtig gut. Die Containermenschen waren die Reality-Show-Pioniere, die Wellenbrecher für Inselduell, Der Frisör, House of Love, Girls Camp und alles weitere. Er hat etwas merkwürdig Sentimentales, so ein Nachruf auf Big Brother. Man kannte.sich ja ganz gut. Zlatko war halt eine ganze Weile da, Alida auch noch ein bißchen, Ebru gab es auf Pepsi-Dosen im Supermarkt, deren Restbestände jetzt so verloren wirken wie ein Schoko-Weihnachtsmann im August.
Wenn man versuchte, in der Kneipe mal auf einem Bierdeckel zu notieren, wie die Helden der ersten Staffel hießen - die meisten Namen würden einem wohl einfallen wie die Spieler der Weltmeister-Elf von '74.

Letzte Fragen

Danach nichts mehr. Wer im Moment bei Big Brother III mitmacht, weiß kein Mensch. Ein Rastamann ist dabei, den Harald Schmidt neulich beiläufig ,,Lenny Kravitz für Arme" genannt hat. Der gute alte Zlatko durfte damals noch zu Schmidt in die Show und sich wichtig fühlen; dort wo jetzt Big Brother-Moderatorin Aleksandra Bechtel sitzt und mit dem Meister lacht über die eingesperrten Pflegefälle. Aleksandra Bechtel - eine witzige und charmante Fernsehfrau - wird bleiben, wenn der Container längst zugenagelt ist. Jeder kann ein Star sein, hieß ja das unausgesprochene Motto des Experiments: Jedenfalls sollten die Container-Kids es so deuten. Jetzt, wo es zu Ende geht, sind die einzigen Stars die Moderatoren, also die Profis im Spiel. Sie profilieren sich auf Kosten der Kandidaten. Das Business funktioniert nach seinen ganz alten Regeln.
Auf Girls Camp kann man keinen Nachruf dichten, da ist es Zeit für eine Abrechnung. Oder für letzte Fragen. Wie haben es, zum Beispiel, die Sat 1-Strategen hingekriegt, ausschließlich Frauen (konsequent Mädels genannt) ins Camp vorzulassen, die alles in sich vereinigen, was man an Mädels hassen muß?
Eine zehnköpfige Armee von Vollfriseusen, die kreischen, wenn sie lachen wollen, die anfangen zu weinen, wenn eine Fliege in ihr Saftglas schwirrt, die unter der Dusche ihre eingeölten Brüste betrachten, als sähen sie sie zum ersten Mal, die am Pool auf irgendwas warten, rauchend und sich dehnend wie die Mädels auf der Reeperbahn. Aus dem Fernseher wabert dieses Aroma aus Marlboro-Light-Qualm, billigem Parfum und dem Schweiß der Erwartung. Friseusen, die ihr Haar zu Zöpfchen geflochten tragen wie die Frauen in Afrika, aber im Köpfchen darunter geht es heimatverbunden zu. Kandidatin Claudia, 19, beschrieb ihren Traumboy als groß, blond und blauäugig: ,,Ich stehe auf den arischen Typ."
Schauplatz ist die Kanareninsel El Hierro, die noch als kontaminiert einzustufen sein wird, wenn der letzte Tropfen Sonnenmilch im Campboden versickert ist. Das wird bald geschehen: Sat 1-Sprecherin Kristina Faßler hat schon angekündigt, daß der Sender ,,die Zukunft nicht in Real-Life-Formaten" sehe. Für einen 30-Sekunden-Werbespot in Girls Camp muß man nur noch 22 020 Mark statt 51 930 Mark bezahlen. Das heißt: Die kurzen Hemdchen mit der Girls Camp-Rose geben bald einen prachtvollen Grabschmuck ab, und die Zuschauer wenden sich wieder dem zu, was das Leben ihnen bietet: das Leben der echten Stars.
Es hat eine ganze Menge geboten in den letzten Wochen, auch das hat den Voyeur-Shows nicht gut getan. Ein Becker zwischen drei Frauen - das interessiert mehr als jeder Menschenkäfig.
Das wahre Leben spielt sich nicht im Container ab, sondern in der Wäschekammer.

HOLGER GERTZ